Spreading Depolarization
Das Gehirn ist das empfindlichste Organ unseres Körpers gegenüber einem Energiemangel. Im Gegensatz zu anderen Geweben zeigen die Netzwerkstrukturen, die unter physiologischen Bedingungen neurale Information verarbeiten, unter pathologischen Bedingungen eine Form des abrupten, fast kompletten Zusammenbruchs der zellulären Homöostase. Dieser fast komplette Zusammenbruch ist toxisch und verkürzt die Zeitspanne eines Energiemangels, die Neurone überleben können. Es handelt sich dabei um einen potentiell reversiblen Dämmerzustand zwischen Leben und Tod, der als gigantische Welle elektrochemischer Entladung von Neuron zu Neuron wandert. Dieser Prozess wird als Spreading Depolarization (SD) bezeichnet (www.braintsunamis.org). Die Welle ist nicht auf energetisch gestörtes Gewebe beschränkt, sondern setzt sich auch in die adäquat versorgte Umgebung fort. Während die prinzipiellen biophysikalischen und biochemischen Charakteristika erhalten bleiben, verändern sich verschiedene Eigenschaften entlang dieses Weges in das gesunde Gewebe. Diese Veränderungen machen die Welle im gesunden Gewebe relativ harmlos. Bei Patienten mit Schlaganfall und Schädel-Hirn-Trauma findet man das volle SD Kontinuum, während bei der Migräne mit Aura hauptsächlich der gutartige Teil des Kontinuums beobachtet wird. Um diese Krankheiten besser behandeln zu können, ist es notwendig, das SD Kontinuum besser zu verstehen.
Formaler ausgedrückt ist SD der generische Begriff für Wellen einer abrupten, andauernden Massendepolarisation grauer Substanz des zentralen Nervensystems aufgrund eines fast kompletten Zusammenbruchs der neuronalen transmembranösen Ionengradienten. Es kommt darüber hinaus zu (i) einem fast kompletten Kurzschluss über die Nervenzellmembran, (ii) einem elektrischen Aktivitätsverlust (Spreading Depression), (iii) einer Schwellung von Neuronen mit perlschnurartigen Auftreibungen der Dendriten (zytotoxisches Ödem), (iv) der Depolarisation neuronaler Mitochondrien, (v) massiver Glutamatfreisetzung (Exzitotoxizität) und (vi) der Depolarisation von Astrozyten. Die massive Gewebedepolarisation wandert wie ein Tsunami mit einer Geschwindigkeit von ~3 mm/min durch die graue Substanz und wird als große, negative Verschiebung des extrazellulären Gleichstrompotentials (engl.: direct current (DC) shift) gemessen. Die elektrochemischen Veränderungen machen deutlich, dass SD einer der fundamentalsten pathologischen Prozesse des zentralen Nervensystems ist.
"Normale" and "inverse" neurovaskuläre Kopplung an SD
SD entsteht, wenn der passive Kationeneinstrom über die Zellmembran die ATP-abhängige Na+- und Ca2+-Pumpenaktivität übersteigt. SD ist also ein passiver Prozess, der durch die elektrische Kraft und Diffusionskräfte getrieben wird. Erst die nachfolgende Repolarisation steigert den Energieverbrauch, da zusätzliche Na+- and Ca2+-Pumpenaktivität rekrutiert werden muss. Daher fällt ATP sogar in gesundem Gewebe um ~50 % ab, in dem die volle Repolarisation innerhalb von 1–2 min erreicht wird. Um die Sauerstoff- und Glukoseverfügbarkeit zu erhöhen, induziert SD im gesunden Gewebe eine Dilatation der Widerstandgefäße ("normale" neurovaskuläre Kopplung). Der regionale zerebrale Blutfluss (rCBF) steigt daher als Antwort auf SD im gesunden Gewebe an (= Spreading Hyperemia).
Das Gegenteil der "normalen" neurovaskulären Antwort, die "inverse" neurovaskuläre Antwort, entsteht durch lokale Dysfunktion in der Mikrozirkulation. Bei der "inversen" Kopplung ist ein schwerer mikrovaskulärer Spasmus statt einer Vasodilatation an SD gekoppelt. Dies resultiert in Spreading Ischemia. Das Perfusionsdefizit der Spreading Ischemia verlängert die Dauer der neuronalen Repolarisation, da Sauerstoff- und Glukosemangel die ATP-Verfügbarkeit zusätzlich vermindern. Dies zeigt sich in einer Verlängerung des negativen DC-Potentials. Pharmakologisch induzierte Spreading Ichemia war in der Ratte ausreichend, um eine fokale Nekrose zu induzieren. Dies legt nahe, dass die "inverse" neurovaskuläre Kopplung ein vielversprechendes Ziel für therapeutische Interventionen darstellt.
Spreading Ischemia bei aneurysmatischer Subarachnoidalblutung
Verzögerte zerebrale Ischämie (engl.: delayed cerebral ischemia (DCI)) nach aneurysmatischer Subarachnoidalblutung (engl: aneurysmal subarachnoid haemorrhage (aSAH)) ereignet sich in 33–38 % der Patienten mit einem Maximum um den Tag 7 nach der Blutung. Zehn bis 13 % der Patienten entwickeln verzögerte Infarkte in der Computertomographie. Aneurysmatische SAH gilt als Modellerkrankung für die Studie der Läsionsprogression beim Schlaganfall, da die Patienten invasiv auf der Intensivstation vor und während der gesamten Periode der verzögerten Infarktentwicklung beobachtet und überwacht werden können. Es wird angenommen, dass ein proximaler Vasospasmus an der Pathogenese von DCI beteiligt ist, der vermutlich als Folge subarachnoidaler Blutabbauprodukte entsteht. Der positive prädiktive Wert eines proximalen Vasospasmus in der digitalen Subtraktionsangiografie für die Entstehung von DCI ist allerdings mit 30–50 % nur gering. Eine komplementäre Erklärung für DCI bietet das Auftreten von SDs, die in Gegenwart von Blutabbauprodukten eine "inverse" neurovaskuläre Kopplung mit mikroarteriellem Spasmus und Sistieren der Mikrozirkulation für Minuten bis Stunden aufweisen. Dieses Phänomen wurde sowohl im Tiermodell als auch bei Patienten mit aSAH beobachtet (Dreier et al., 1998; Dreier et al., 2009; Dreier, 2011).